Westerwelle: Kunst ist eine Tochter der Freiheit

10.05.2009 Reden FDP-Bundestagsfraktion

Guido Westerwelle

Rede von Dr. Guido Westerwelle, MdB, beim 45. Kulturfrühstück der FDP-Bundestagsfraktion in Köln am 10. Mai 2009

Sehr geehrte Damen und Herren, 

warum sind Kunst und Kultur so wichtig? Kunst und Kultur sind der Nukleus der geistigen Entwicklung einer Gesellschaft. Kunst und Kultur spiegeln den Zustand einer Gesellschaft, oft gehen sie ihr voran, ja treiben die Entwicklung einer Gesellschaft weiter. Wir genießen nicht nur Kunst und Kultur, sie beeinflußt uns auch, und zwar meist positiv im Sinne des Humboldtschen Bildungsideals für den freien und selbständigen Menschen. 

Ich bin der Überzeugung: Ohne Kunst und Kultur wäre eine Gesellschaft nicht kreativ, eine Wirtschaft nicht innovativ, ohne Kunst und Kultur wäre Bildung technokratisch. Erst Kunst und Kultur geben die Vielfalt der Sichtweisen in unserer Gesellschaft wider. Kunst und Kultur sind deshalb so wertvoll, weil sie zu den Werten unserer Gesellschaft beitragen. Sie machen uns Deutsche zu einer Kulturnation. 

Meine These ist: Kunst und Kultur entscheiden auch über den wirtschaftlichen Fortschritt einer Gesellschaft. Und zwar nicht nur als Markt für Kunst und Kultur selbst, sondern zu aller erst, weil Kunst und Kultur die Gemütsverfassung einer Gesellschaft bestimmen, ihre Kreativität, ihren Optimismus, ihre Neugierde, ihr Streben nach Qualität und Schönheit.

Ich persönlich habe meine Liebe zu Kunst und Kultur weder gestern noch vorgestern entdeckt. Seit vielen Jahren sammle ich Kunst. Seit vielen Jahren begeistert mich die Oper. Aber es geht hier nicht um mich. Mir geht es heute darum, Ihnen zu sagen, warum die Liberalen Kunst und Kultur eine so zentrale Bedeutung beimessen.

Ein Gedanke steht für die FDP im Kern ihres Weltbildes. Dies ist der Wert der Freiheit, der Freiheit zur Verantwortung. Freiheit ist unteilbar. Eine marktwirtschaftliche Ordnung, eine tolerante Bürgergesellschaft und Entfaltungsraum für die Kultur: Diese drei Elemente gehören zusammen. Eine obrigkeitsstaatliche Gesellschaft, in der der Staat wie ein Leviathan in das Leben jedes einzelnen Bürgers eingreift, versagt überall. Eine bürokratische Staatswirtschaft schafft weder Wachstum noch Arbeitsplätze. Eine intolerante Gesellschaft engt die Freiheit des Einzelnen zur verantwortlichen Selbstentfaltung ein. Und: Eine unfreie Gesellschaft unterbindet Kreativität. „Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit“. Diese Aussage Friedrich Schillers charakterisiert unser Grundverständnis von der Bedeutung der Freiheit für die Kultur. 

Nur durch Kreativität gibt es innovative Produkte für die Wirtschaft und neue Gedanken in der Kunst und der Kultur. Nur durch Kreativität und Freiheit können jene Leistungseliten entstehen, die wir dringend brauchen. Wir brauchen sie in jedem Bereich: in der Wirtschaft und im Sport, in der Wissenschaft und in der Kultur.

Mir liegt dies so am Herzen, weil ich Ihnen verdeutlichen möchte, wieso der zentrale Wert der Kultur für uns Liberale kein isoliertes Mosaiksteinchen ist, sondern Teil von etwas Ganzem: unserem Gesellschaftsbild. Wir wollen ein Land, das modern ist, aufgeschlossen, tolerant, leistungsbereit. Die Bereiche, die von einem solchen Geist profitieren, sind alle. Betriebe und Universitäten, Labore und Gründermessen, Kulturstiftungen und Theater, der Film und der Kunstmarkt. Wahrhaft frei, wirklich aufgeschlossen kann nur eine Gesellschaft sein, die der Kultur eine zentrale Bedeutung zumißt. Das ist die Lehre aus Jahrhunderten deutscher Geschichte als Kulturnation. Das ist aber auch ein Auftrag für die Zukunft.

Liberalismus will Menschlichkeit durch Vielfalt. Freiheit ist Vielfalt. Vielfalt in der Marktwirtschaft heißt Wettbewerb. Vielfalt in der Gesellschaft heißt Toleranz. Die Dynamik der Freiheit entfaltet sich gleichermaßen auf dem Markt der Ideen, Entwürfe und Lösungen, wie auf dem Markt der Interessen und Güter. 

Gesellschaftliche und wirtschaftliche Freiheit sind unteilbar. Gesellschaftliche Freiheit und wirtschaftliche Freiheit bedingen einander und fördern sich gegenseitig. Marktwirtschaft braucht eine freiheitliche, vielfältige und tolerante Gesellschaft. Eine freiheitliche, vielfältige und tolerante Gesellschaft braucht Marktwirtschaft.

Individuelle Freiheit setzt Kreativität und persönliche Leistungsbereitschaft frei. Fortschritt gedeiht am besten in einer freien, offenen und pluralen Gesellschaft. Liberale treten dem Vorurteil entgegen, das wirtschaftliche Freiheit für rechts hält und gesellschaftliche Freiheit für links. Für Liberale verläuft die politische Grenze nicht zwischen rechts und links, sondern zwischen freiheitlich und autoritär.

Sehr geehrte Damen und Herren,

das ist auch der Grund, warum die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes den Schutz der kulturellen Vielfalt, der Freiheit von Kunst und Kultur einen Verfassungsrang gegeben haben. Unser Grundgesetz schützt in Artikel 5, Absatz 3 die Freiheit der Kunst. Das ist mehr als die Abwesenheit von staatlicher Zensur. Das ist ein Schutzauftrag des Staates für die kulturelle Vielfalt in unserem Lande. 

Die kulturelle Vielfalt in Deutschland besteht zuerst aus zahllosen privaten Initiativen. Aus vielen, vielen kleinen, oft regionalen Initiativen und auch manchen großen privaten Stiftungen. Kultur wird nicht nur passiv konsumiert, sondern muss auch aktiv betrieben werden. Daher lautet das kulturelle Leitbild einer liberalen Gesellschaft „Kultur von allen“. Das gilt für das Fördern und Finanzieren ebenso wie für die aktive Teilhabe an der Kultur. 

Wenn ich von Musik und Museen, dem Kulturmarkt und Kino spreche, dann möchte ich klarstellen, was für mich Kultur bedeutet: Kultur ist mehr als Kunst, in der Kulturpolitik geht es um mehr als um die Finanzierung von Freizeitgestaltung der gehobenen bildungsbürgerlichen Lebensart. Es gibt ja spannende Massenkultur-Phänomene: populäre Musik- und Videokultur wie zum Beispiel Youtube im Internet oder ganz allgemein Blogs. Moderne Web 2.0 - Formate wie diese gehören zur kulturellen Vielfalt des Landes. Hier hat sich eine eigene "Netzkultur" entwickelt. Eine Horizonterweiterung des Kulturbegriffes findet statt, der sich an eine neue Zielgruppe richtet. Manche mögen leicht despektierlich meinen "leichte Kost", doch Soziale Netzwerke wie facebook und StudiVZ sind nicht nur wichtige Märkte der Kultur, sie spiegeln auch oft das Lebensgefühl der jungen Generation wieder. Junge wie Alte werden alle Teil einer Internetrepublik Deutschland. 
Auch sie gehören zur kulturellen Vielfalt des Landes. Sie sind nicht nur wichtige Märkte der Kultur, sie spiegeln auch oft das Lebensgefühl der jungen Generation wider. 

In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte sich das Kulturverständnis in Deutschland grundlegend verändert: Die traditionelle Hochkultur bemühte sich um Breitenwirkung und aktivierte ein breites Publikum.

Im Laufe der nächsten Jahre entwickelte sich eine kulturelle Bewegung, die als „Kultur für alle“ bzw. „Populärkultur“, „Alltagskultur“ und „Freizeitkultur“ in Konzepte der Kulturpolitik Eingang fand. Die Besonderheit dieses erweiterten Kulturverständnisses war: Kultur darf auch unterhaltsam sein.

Hoch- und Populärkultur, Kunst und Unterhaltung bewegen sich seither auf einander zu. 

Tenöre singen in Fußballstadien, Popkonzerte finden in Kirchen statt. Früher „hatten“ wenige Kultur, heute können viele Kultur „erleben“. Die Hochkultur traditioneller Prägung hat ihren elitären Charakter verloren.

Was Kultur ist, wird nicht von einer abgehobenen Schicht entschieden. Die Beurteilung der Kultur ist genauso frei wie die Kultur selbst.

Anfangs galt Hermann Hesse als trivial, längst ist er ein Thema für germanistische Oberseminare. Zu Lebzeiten wollte kaum einer einen van Gogh haben. Heute ist er unbezahlbar.

Die Beatles starteten als Bürgerschreck, heute führt bald jeder zweite britische Musiker ein „Sir“ im Namen.

„Kultur hat viele Gesichter“, sagen 69 Prozent der Deutschen.

Zur Kultur gehören also Vielfalt und Vielseitigkeit, Klassisches und Modernes, Ernstes und Unterhaltsames. Kultur darf unterhaltsam und erlebnisreich, muß nicht nur ernst und anstrengend sein. 

Und damit dies alles erfüllt werden kann, muss die Politik für die richtigen Rahmenbedingungen sorgen. Lassen Sie mich vier Punkte vertiefen:

1. Wir haben einen Rückgang der musischen Erziehung in den Schulen. Unser Humboldtsches Bildungsideal verlangt eben auch eine Infrastruktur in den Schulen für Kunst und Kultur. Ich zitiere hier aus Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen: „Ausbildung des Empfindungsvermögens ist also das dringendere Bedürfnis der Zeit.“ Deswegen brauchen wir eine neue Anerkennung, beginnend bei den Schulfächern, daß es sich bei Kunst und Kultur um eine hoheitliche Kernaufgabe des Staates handelt. 

Der Ausfall von Musikunterricht im Grund- und Hauptschulbereich beträgt in einzelnen Bundesländern bis zu 80 Prozent. Musik läuft nur nebenher. Lediglich 20 Prozent des Musikunterrichtes an Grundschulen wird von dafür ausgebildeten Pädagogen vorgenommen. Man stelle sich den Aufschrei und die Entrüstung vor, wenn ein Musiklehrer plötzlich Mathematik erteilen würde. Es gibt eine Initiative, die Grundschullehrer weiterbildet, die keine Ausbildung als Schulmusiklehrer genossen haben. Für das Fach Mathematik wäre das unvorstellbar. 

Hier müssen wir ansetzen. Hans-Joachim Otto hat es schon gesagt: Kulturelle Bildung ist eine gemeinsame Zukunftsaufgabe. 

2. Die wichtigste Ebene der kulturellen Vielfalt in unserem Land sind die privaten Initiativen und Stiftungen der Bürgerinnen und Bürger. Die Zivilgesellschaft ist neben Staat und Markt der dritte wesentliche Akteur in Deutschland. Ohne die rund eine Million Vereine, die rund 20.000 Stiftungen und vor allen die ungefähr 23 Mio. Menschen, die sich in diesen Vereinen und Initiativen engagieren, würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren. Die Zivilgesellschaft benötigt Rahmenbedingungen, unter denen sie sich möglichst frei und unabhängig weiterentwickeln kann. Erforderlich ist eine grundlegende Überarbeitung des Gemeinnützigkeitsrechts. Die FDP hat dafür präzise Reformkonzepte vorgelegt. 

Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ hat festgestellt: „Der größte Kulturfinanzierer in Deutschland ist der Bürger. Zunächst als Marktteilnehmer, dann als Spender und in dritter Linie als Steuerzahler.“ Und in all seinen Facetten müssen wir den Bürger ernst nehmen.

3. Kunst und Kultur leben von denjenigen, die sich für sie engagieren, die künstlerisch tätig sind. Künstlerisches Schaffen muß als geistiges Eigentum genauso geschützt sein wie Eigentum an der Sache. Hier geht es um die Wertschöpfung und Honorierung einer künstlerischen Leistung. Es ist uns wichtig, Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen Künstler und Kreative von ihren Werken, leben können. Wir setzen uns daher für ein starkes Urheberrecht ein. 

Die digitale Welt braucht ein starkes Urheberrecht, denn erst ein wirksamer Schutz des geistigen Eigentums durch das Urheberrecht schafft die notwendigen Anreize für kreative Tätigkeit und für Investitionen in deren wirtschaftliche Verwertung. Das ist auch für die Kino- und Videobranche von großer Bedeutung. 

Raubkopieren ist keine Bagatelle, sondern muß genauso strafbar sein wie Schokolade klauen. 

Ebenso verhält es sich mit der Veröffentlichung ganzer Bücher im Internet, die kostenlos abrufbar sind. Geschieht dies ohne den Willen der Urheber, so ist dies nicht hinnehmbar. Es muss selbstverständlich der Entscheidung der Autoren freigestellt bleiben, ob und wo ihre Werke veröffentlicht werden sollen. Wo kommen wir denn da hin, wenn wir das Google überlassen? Autoren und Verleger – von Daniel Kehlmann bis Hans Magnus Enzensberger – appellieren derzeit an die Politik, sich für die Interessen der Urheber einzusetzen. Sie alle haben davon gehört: der „Heidelberger Appell“ liegt auf dem Tisch. Es fällt uns leicht, dies zu unterstützen. Eine Enteignung der Urheber darf es nicht geben. 

Sehr geehrte Damen und Herren, 

ich verstehe den Kulturauftrag des Staates als ein aktives Kulturstaatsgebot. Für mich sind die Kulturausgaben der Kommunen, der Länder und des Bundes nicht das Sahnehäubchen der staatlichen Haushalte, für mich sind Ausgaben für die Kultur keine Subventionen, sondern eine Investition. 8 Milliarden Euro werden gesamtstaatlich für Kultur und Kunst ausgegeben. Und es ist ein Fehler, dass die Finanzminister und Kämmerer die Kulturhaushalte als Steinbruch betrachten, wenn die Haushalte jetzt in Notlage geraten. 

Rund 500 Millionen Euro geben Unternehmen für Kultursponsoring jedes Jahr aus. Dem Statistischen Bundesamt zu Folge gibt es in Deutschland mehr als 4.700 Museen mit rund 100 Millionen Besuchern im Jahr 2000. Es gibt in Deutschland 731 Spielstätten von Theatern über Konzertsäle bis hin zu Freilichtbühnen mit mehr als 20 Millionen Besuchern im Jahr. Man liest, mit 69 Opernhäusern habe Deutschland mehr Opernhäuser als der Rest der Welt zusammen. Das heißt für mich nicht, daß wir ein Zuviel an Kulturangebot haben. Das heißt für mich, daß wir eine hohe Nachfrage haben. Das ist ein gutes Zeichen für die Kulturnation Deutschland. Dazu möchte ich Oscar Wilde zitieren: „Wer in schönen Dingen einen schönen Sinn entdeckt, der hat Kultur.“